Richard Schröder räumt mit Fehl- und Vorurteilen über die Deutsche Einheit auf
„Die Wiedervereinigung hat uns allen nur Nachteile gebracht… Im Milliardengrab Ostdeutschland sind in den Jahren 1991 bis 2003 ca. 1.280 Mrd. Euro Transferleistungen spurlos verschwunden… Im Gegenzug hat die Treuhand das gesamte DDR-Staatsvermögen verprasst… Die Ostdeutschen sind arbeitslos und rechtsradikal oder sie lassen sich von westdeutschen Firmen als Billigarbeiter missbrauchen… Während so die besten Köpfe des Ostens in den Westen abwandern, geben wir weite Landstriche der völligen Verödung preis… Vielleicht hätten wir besser auf Günter Grass und Oskar Lafontaine hören sollen und auf die Wiedervereinigung verzichtet… Die DDR war schließlich kein Unrechtsstaat.„
Diese und andere unsinnige Behauptungen über die Revolution von 1989 (nennen wir sie ruhig so!) und die anschließende Wiedervereinigung beider deutscher Teilstaaten möchte der Theologe Richard Schröder in seinem neusten Buch widerlegen. Der Autor widmet sich weit verbreiteten Fehl- und Vorurteilen über die DDR und die Ostdeutschen, den Vereinigungsprozess und das vereinigte Deutschland. Nach einer kurzen Einleitung arbeitet er Punkt für Punkt insgesamt 32 solcher Irrtümer ab. Schröder, Universitätsprofessor und brandenburgischer Verfassungsrichter, vergreift sich dabei nicht an wissenschaftlichem Fachvokabular, sondern wählt eine bürgernahe Sprache. Der Autor verbindet große Politik mit Schilderungen privater Erlebnisse und ringt dem Leser das eine oder andere Schmunzeln ab.
Schröder ist jemand, der weiß, wovon er spricht. Er selbst hat in der DDR gelebt und als Pastor gearbeitet. Als Abgeordneter der DDR-Volkskammer von 1990 hat er zudem aktiv am Vereinigungsprozess mitgewirkt. Für Schröder ist die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte, was er an vier Punkten festmacht: Da ist zunächst die Perspektive des Auslands, aus der die innere Einheit Deutschlands im Vergleich mit anderen Nationen wie Belgien oder Großbritannien weit fortgeschritten wirken muss. Aber auch historisch betrachtet steht die heutige Bundesrepublik ohne Grenzkonflikte und interne Kulturkämpfe sehr gut da. Zum Dritten weisen die übrigen Staaten des ehemaligen Ostblocks viel größere wirtschaftliche und politische Probleme als der Osten Deutschlands auf. Zuletzt vergleicht Schröder die Lebensbedingungen in der DDR mit denen im heutigen Ostdeutschland und zieht im Hinblick auf Meinungs- und Reisefreiheit und die Beseitigung der Mängelwirtschaft ein insgesamt positives Fazit.
Dennoch teilen nur wenige Schröders Optimismus. Wenn man eine Behauptung nur oft genug wiederholt, nehmen die Menschen sie früher oder später für bare Münze. Eine solche Behauptung ist zum Beispiel die des „falschen“ Umtauschkurses von Ost- in D-Mark. Tatsächlich lag der effektive Wechselkurs bei ca. 1,3 zu 1, während der in der freien Wirtschaft gehandelte Wert zwischen 4 zu 1 und 7 zu 1 lag. Dennoch sind die Ostdeutschen keineswegs über Nacht Millionäre geworden. Mit ihrem Ersparten befreiten sie die westdeutschen Autohändler von ihrer Gebrauchtwagenschwemme, und westliche Kaufhäuser erzielten ein erträgliches Zusatzgeschäft. Ferner mussten die Ostdeutschen nach der Währungsreform eine enorme Anhebung der Lebenshaltungskosten auffangen. Die Anwendung eines „realen“ Wechselkurses hätte die Ostdeutschen über Nacht in die Armut getrieben und somit die innere Einheit Deutschland Jahre hinausgezögert.
Entgegen jeglicher Glorifizierung der „guten alten Zeit“ arbeitet Schröder die wirtschaftlich und politisch desolate Lage der DDR im Jahre 1989 präzise heraus. Beim oft zitierten DDR-Staatsvermögen in Höhe von 1.200 Mrd. Ostmark (es hätte beim damaligen Umrechnungskurs weniger als 300 Mrd. DM ergeben) handelte es sich um eine fiktive Schätzung. Diese berücksichtigte Werte von Fabriken, die keineswegs marktgerecht produzieren konnten und für die nach der friedlichen Revolution nur noch die Abrissbirne blieb. Die in der Öffentlichkeit herumgeisternden Zahlen zu Transferleistung von West nach Ost lassen zumeist den Kapitalfluss von Ost nach West außer Acht. Die Ostdeutschen haben die 1.280 Mrd. Euro Starthilfe aus dem Westen nun mal nicht auf ein Sparkonto eingezahlt, sondern damit vor allem westdeutsche Produkte gekauft und allein 300 Mrd. Euro Steuern gezahlt. Die vom Autor aufgezählten Irrtümer sind eben eine Frage des richtigen Lesens von Statistiken. Darüber hinaus sind die im Osten investierten Gelder keineswegs im Sande verlaufen. Ostdeutschland verfügt heute nicht nur über ein gut ausgebautes Straßennetz, sondern über die beste Infrastruktur der ehemaligen Ostblockstaaten. Kaum in finanziellen Werten auszudrücken ist ferner die gestiegene Lebensqualität: Die enormen Umwelt-Altlasten wurden weitgehend beseitigt, die Lebenserwartung der Ostdeutschen hat sich der der Westdeutschen nahezu angeglichen.
Leider gelingt es Schröder nicht immer, die von ihm angesprochenen Irrtümer vollständig zu widerlegen. So bleibt offen, warum der 3. Oktober als Nationalfeiertag geeignet sein soll, obwohl die Bevölkerung ihn nicht als solchen annimmt. Ein bürokratischer Akt eignet sich nun mal nicht im selben Maße zur Begründung einer kollektiven Erinnerung wie beispielsweise der Aufstand in der sowjetischen Besatzungszone am 17. Juni 1953.
Ebenso lässt Schröders ganze fünf Sätze umfassende Stellungnahme zur Diskrepanz zwischen Ost- und Westlöhnen zu wünschen übrig. Der Autor bekundet, mit seinem eigenen Gehalt als Universitätsprofessor völlig zufrieden zu sein und deutet an, auch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichten zu können. Das ist zwar löblich, aber wahrscheinlich kein guter Weg, um einen Fließbandarbeiter versöhnlich zu stimmen oder dem Polizisten in Erfurt zu erklären, warum er für die gleiche Arbeit weniger Gehalt bekommt als sein Kollege in Emden. Warum Schröder hier nicht anhand von Zahlen und Fakten argumentiert, bleibt offen.
Nicht schönreden lässt sich die rassistische Gewalt, die in Ostdeutschland häufiger auftritt als in Westdeutschland. Da hilft es auch nicht, auf die im Westen höhere Zahl von Personen zu verweisen, die Mitglied einer rechtsextremen Partei sind. Dem Opfer einer fremdenfeindlichen Tat ist es im Zweifel völlig egal, ob der Täter Mitglied einer rechtsextremen Partei ist oder nicht. Schröder macht sich zudem angreifbar, indem er behauptet, Neonazis hätten noch nie ein Kind umgebracht (S. 220). Die ausländerfeindlichen (Kinder-)Morde im Westen Deutschlands zu Beginn der 90er Jahre haben uns eines besseren belehrt. Dieser Fauxpas sollte in der nächsten Auflage behoben werden.
Offen bleibt schließlich die Frage, warum Schröder die von ihm untersuchten Irrtümer im Titel seines Buches mit dem positiv konnotierten Wort „wichtig“ charakterisiert. Die beschriebenen Irrtümer sind gravierend, peinlich, einige sogar schlimm. „Wichtig“ hingegen können Irrtümer allenfalls für die deutsche Einheit gewesen sein, wie die von Günter Schabowski vor der versammelten Weltpresse geäußerte Annahme, die Ausreisefreiheit gelte „ab sofort“, die den von der DDR-Führung nicht gewollten Fall der Berliner Mauer auslöste.
Wie Schröder richtig feststellt, sind die negativen Kritiken des Einigungsprozesses mitunter das Ergebnis unrealistischer Erwartungen. Eine völlige Angleichung von Ost und West ist ebenso illusorisch wie die von Nord und Süd. Die Deutschen sind Weltmeister im Frauenfußball, Weltmeister im Herrenhandball und „Europameister im Pessimismus“, wie der Autor formuliert. Richard Schröder möchte uns mit seinem Buch die Augen öffnen. Auch wenn einzelne Dinge besser hätten laufen können, so gehört die Wiedervereinigung zu den großen deutschen Erfolgsgeschichten. Sie schlecht zu reden ist eine große Dummheit.
Richard Schröder: Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit, 254 Seiten, Herder-Verlag 2010, Taschenbuch, 9,90 Euro.