Ist die Fünf-Prozent-Hürde (noch) demokratisch? Eine Analyse.
Gastbeitrag von Philipp Döbbe
Sperrklauseln sind ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite können sie verhindern, dass ein Parlament in zu viele Parteien zersplittert und das Land hierdurch unregierbar wird. Auf der anderen Seite sorgen sie dafür, dass Wählerstimmen bis zum Erreichen einer bestimmten Größenordnung nicht zählen, was die Etablierung neuer Parteien erschwert und zu Verkrustungen im politischen System führt – Politikverdrossenheit inklusive.
Bei der Bundestagswahl 2013 scheiterten FDP und AfD mit 4,8 % bzw. 4,7 % denkbar knapp an der Fünf-Prozent-Sperrklausel, die für eine Repräsentanz im Bundestag überwunden werden muss. Insgesamt waren durch die Sperrklausel 15,7 % der Stimmen und damit fast sieben Millionen Wähler ohne Einfluss auf die Besetzung des Bundestages. Ein demokratiepolitisches Desaster, dessen Nutznießer sich bei den etablierten Parteien fanden.
Ironischerweise sind es genau jene etablierten Parteien, die auch für das Wahlrecht und damit die Höhe der Sperrklausel zuständig sind. Und man darf sagen: Sie nutzen diesen Umstand weidlich aus. In die Quere kommen können ihnen dabei nur Gerichte. So erklärte das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Sperrklausel bei Wahlen zum EU-Parlament 2011 für verfassungswidrig – und konnte hierfür stichhaltige Argumente vorweisen:
Ein Eingriff sei bei Europawahlen nicht gerechtfertigt, entschieden die Richter 2011. Da bereits mehr als 160 Parteien im Europäischen Parlament vertreten sind, werde die Funktionsfähigkeit des Parlaments ohne eine Sperrklausel in Deutschland nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit beeinträchtigt. Zudem hätten die sieben Fraktionen im Parlament eine erhebliche Integrationskraft. Darüber hinaus wähle das Europaparlament im Unterschied zum Bundestag keine Regierung, die auf die permanente Unterstützung der Abgeordneten angewiesen sei.
Besonders viel Eindruck machte das höchste deutsche Gericht bei den etablierten Parteien mit seiner Entscheidung aber offenbar nicht. Sie erließen behände eine neue Sperrklausel, dieses Mal angesiedelt bei 3 %. Doch auch die neue Sperrklausel befand das Bundesverfassungsgericht 2014 für verfassungswidrig.
Freuen konnten sich bei den Wahlen zum EU-Parlament 2013 jedenfalls die kleinen Parteien. Ins EU-Parlament schaffte es dank fehlender Sperrklausel mit jeweils einem Sitz eine bunte Mischung aus Freien Wählern (1,5 % bzw. 428.800 Stimmen), Piraten (1,4 % bzw. 425.044 Stimmen), Tierschutzpartei (1,2 % bzw. 366.598 Stimmen), NPD (1,0 % bzw. 301.139 Stimmen), Familienpartei (0,7 % bzw. 202.803 Stimmen), ÖDP (0,6 % bzw. 185.244 Stimmen) und Die Partei (0,6 % bzw. 184.709 Stimmen).
Für im EU-Parlament vertretene Kleinparteien bedeutet die parlamentarische Verankerung eine deutliche Stärkung: Nicht nur ihre Bekanntheit und Reputation wird durch den Einzug erhöht. Durch die Möglichkeit Mitarbeiter einzustellen und den auch EU-Abgeordneten gewährten Zugriff auf die Infrastruktur des Bundestages (Büros, Wissenschaftlicher Dienst, Fahrbereitschaft, Bibliothek) erhalten sie auch zusätzliche Ressourcen – was ihre Schlagkraft nochmals stärkt.
Der positive Effekt bei Wahlen zum EU-Parlament könnte für die kleinen Parteien könnte noch wachsen, um so bekannter der Fall der Sperrklausel wird. Denn verbreitet hat sich die Information noch längst nicht überall. Man darf zudem davon ausgehen, dass der Wählerwille bei Wahlen zum EU-Parlament nun besser widergespiegelt wird. Denn der Anteil von Wählern, die aus Angst ihre Stimme könnte wertlos werden eine etablierte Partei wählen, dürfte abnehmen.
Verstanden bzw. verstehen wollen haben Union und SPD den Wink mit dem Zaunpfahl aus Karlsruhe aber offenbar immer noch nicht. Wie die „Stuttgarter Nachrichten“ berichten, drängt die Bundesregierung auf eine neue Sperrklausel durch EU-Recht:
Bei der nächsten Europawahl dürfte es in Deutschland wieder eine Sperrklausel geben, die kleine Parteien und Einzelkandidaten am Einzug in die Volksvertretung hindert. (…) Der Kompromiss sieht nun eine Sperrklausel von zwei bis fünf Prozent der Stimmen vor. Die Mitgliedstaaten sollen selbst entscheiden, wie hoch die Hürde ist. Vor allem Deutschland hatte darauf gedrungen, dass die EU vor der nächsten Wahl ein neues Wahlrecht bekommt.
Doch wie der EU-Abgeordnete Daniel Caspary (CDU) wissen lässt, haben die etablierten Parteien hierbei selbstverständlich nur edelste Motive: „Wir sehen eine zunehmende Zersplitterung des Europaparlaments. Es gibt immer mehr Fraktionen, außerdem steigt die Zahl von fraktionslosen und damit weniger wirkungsvollen Abgeordneten immer mehr.“
Dass das Bundesverfassungsgericht genau diese Argumente längst vom Tisch gewischt hat und zwar mehrfach – nebbich. Doch um eine Sache geht es hier ganz bestimmt nicht: Unliebsame Konkurrenz auszuschalten und am Aufbau von Strukturen zu hindern.
>> Alexander Dilger: „Bundesregierung will verfassungswidrige Sperrklausel über EU durchdrücken„