Journalistische Selbstreflexion findet man eher im Ausland
Gastbeitrag von Philipp Döbbe
„Bloggerin Marie Sophie Hingst ist gestorben“ titelte die Tageszeitung Die Welt kürzlich. Das ist nicht ganz falsch. Und es ist nicht ganz richtig. Denn Marie Hingst ist nicht einfach „gestorben“. Sie hat Suizid begangen. Und das auch nicht einfach aus heiterem Himmel, sondern nachdem der Spiegel Anfang Juni in einer großen Geschichte samt Fotos öffentlich gemacht hatte, dass Hingst angebliche Holocaust-Opfer in ihrer Familie erfunden und an die israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gemeldet hat. Dass sie – anders als von ihr behauptet – auch nicht mit 19 Jahren in Neu-Delhi ein „Slumkrankenhaus“ gegründet hat. Und dass sie keine Sexualaufklärung bei jungen Syrern in Deutschland geleistet hat, wie sie in diversen Artikeln und Interviews behauptete. Sechs Wochen nach der Veröffentlichung des Spiegel-Stücks war Hingst tot.
Dabei ist der Spiegel-Artikel keineswegs das, was man im Englischen ein „hit piece“ nennt. Also ein Beitrag, dessen einzige Intention die möglichst negative Darstellung einer Person oder Institution ist. Der Autor Martin Doerry tritt dem Gegenstand seiner Berichterstattung zwar kritisch gegenüber, aber er bleibt dabei respektvoll, beschreibt auch, was nicht so recht zum Stereotype der gewissenlosen Hochstaplerin passen mag:
Auf Fotografien wirkt die 31-Jährige mit ihren langen braunen Haaren mädchenhaft und keinesfalls prätentiös, Eitelkeit scheint ihr fremd. Ihr ganzer Habitus wirkt ebenso intellektuell wie bescheiden.
Spiegel-Redakteur Martin Doerry über Sophie Hingst
Dass der Artikel so sachlich daher kommt, erscheint nicht ganz selbstverständlich, ist der Autor Martin Doerry doch selbst Enkel eines Holocaust-Überlebenden. Angesichts einer Frau, die nicht weniger als 22 Holocaust-Opfer ihrer Familie erfunden und an ein jüdisches Opferarchiv gemeldet, ja sich sogar öffentlich damit gebrüstet hat, gehört eine gehörige Portion Professionalität und Selbstkontrolle dazu, sich hier nicht von seinen Emotionen übermannen zu lassen und ein differenziertes Stück abzuliefern. Das nötigt einem einen gewissen Respekt ab.
Gleichwohl stellt sich zunächst die Frage, ob dieses Stück, der Artikel in der ersten Juni-Ausgabe des Spiegel, überhaupt hätte erscheinen sollen. Denn man muss über keine große Fantasie verfügen, um sich vorstellen zu können, was die öffentliche und im digitalen Zeitalter dauerhafte Bloßstellung als Holocaust-Schwindlerin mit einem Menschen macht.
Rechtliche Voraussetzung für eine Berichterstattung mit vollen Namen ist in Deutschland, dass ein öffentliches Interesse besteht, welches das Persönlichkeitsrecht der betreffenden Person überwiegt. Vorliegend hat Hingst einen mäßig bekannten Blog betrieben, für diesen einen kaum bekannten Preis der Gruppe Die goldenen Blogger („Bloggerin des Jahres 2017“, nach der Spiegel-Enthüllung aberkannt) erhalten und unter Pseudonym insgesamt fünf Artikel bzw. Interviews in BR, SWR, Deutschlandfunk, Zeit und FAZ platziert, die auf erfundenen Begebenheiten beruhten. Das macht sie zwar nicht zu einem Michael Jackson, gleichwohl dürfte kein Zweifel bestehen, dass eine namensnennende Berichterstattung zulässig war, hat Hingst sich mit ihrem Blog doch selbst in die Öffentlichkeit begeben, wahrheitswidrige Medienberichte geschaffen und nicht existierende Holocaust-Opfer in ihrer Familie erfunden.
Allerdings muss nicht alles, was rechtlich zulässig ist, auch moralisch richtig sein. Drängt sich bei einem derartigen Maß an öffentlichen Lügen, zu der auch der behauptete und ebenfalls erfundene Suizid der eigenen Mutter gehörte, der Verdacht auf eine schwere psychische Krankheit nicht geradezu auf? Oder ist dies bloß der wohlfeile Blick von Leuten, die hinterher immer besser wissen, was man hätte tun oder nicht tun sollen?
Klar ist, dass Martin Doerry die Mutter von Hingst einfach hätte fragen können. Er hat mit ihr telefoniert. So schreibt er es im Spiegel. Was in dem Telefonat besprochen und ob eine mögliche psychische Krankheit darin vielleicht sogar thematisiert worden ist, bleibt unklar. Hingsts Mutter wollte den Inhalt des Gesprächs nicht im Spiegel lesen.
Manch einer wird nun sicher fragen, ob der Spiegel sich hier auf eine unbekannte Bloggerin gestürzt hat, um den hausinternen Skandal um erfundenen Geschichten durch den Redakteur Claas Relotius vergessen zu machen. Vielleicht wird sogar jemand auf die Idee kommen zu behaupten, dass Martin Doerry angesichts seiner eigenen Familiengeschichte und einer daraus entnommenen Verpflichtung, einen Missbrauch des Holocausts zu verhindern, die Möglichkeit einer psychischen Erkrankung zu wenig in Betracht gezogen hat.
Doch die Verantwortung für die Ereignisse liegt nicht bei Martin Doerry. Zum einen kann man auch einer psychisch kranken Person nicht alles durchgehen lassen – egal ob sie Menschen mit einem Messer angreift oder Holocaust-Opfer erfindet. Zum anderen war es zwar der Spiegel, der die Geschichte öffentlich gemacht hat, sie auch in englischer Übersetzung ins Netz gestellt hat, so dass Hingsts Umfeld in Dublin sie lesen konnte. Doch auch der russische Staatssender Russia Today und andere haben die Geschichte aufgegriffen und in englische Sprache übersetzt.
Nach der Veröffentlichung des Ursprungsartikel im Spiegel wurde zudem ein Wikipedia-Artikel zu Hingst erstellt, der diese bis zu ihrem Tod im ersten Satz als „deutsche Bloggerin und Hochstaplerin“ vorstellte. Wer weiß, wie weit oben Wikipedia-Artikel bei Google-Ergebnissen rangieren und wie viel Seriosität ihnen beigemessen wird, wird der Druck erahnen können, unter dem Hingst bis zu ihrem Tod stand.
Einen Vorwurf muss man dem Spiegel jedoch in jedem Fall machen: Dass er nach dem Suizid keinerlei Selbstreflexion betrieben hat. Man bedaure den Tod von Hingst, hieß es formelhaft aus dem Verlag. Bei einem Gespräch habe sie „einen konzentrierten, souveränen und keineswegs psychisch angegriffenen Eindruck“ gemacht und man wolle sich an „einer öffentlichen Diskussion über die Ursachen und Hintergründe des Tods“ nicht beteiligen. Für ein deutsches Leitmedium, dessen Bericht den Tod eines Menschen zur Folge hatte, ist das erstaunlich wenig, man möchte fast sagen: Schnoddrig.
Wie man es besser machen kann, zeigt die Irish Times. Das Blatt aus Hingsts Wahlheimat Dublin hat einen ausführlichen Artikel über die Affäre veröffentlicht, der nicht nur exzellent recherchiert und geschrieben ist, sondern auch die Macht von Journalisten selbstkritisch reflektiert. Beim Spiegel, dem selbsternannten „Sturmgeschütz der Demokratie“, scheint man daran kein Interesse zu haben.
Nachtrag: Der Spiegel-Autor Martin Doerry hat in einem Beitrag seine Sicht der Dinge dargelegt. Laut Lea Rosh, der Vorsitzenden des Förderkreises „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, hat die Mutter von Hingst Doerry in dem besagten Telefonat über die psychische Erkrankung ihrer Tochter informiert. Allerdings habe Doerry diese in seinem Artikel bewusst nicht erwähnt. Rosh: „Das hätte seine Geschichte von der Hochstaplerin, der Lügnerin und Quasi-Verbrecherin schließlich kaputt gemacht“.
>> Irish Times: „The life and tragic death of Trinity graduate and writer Sophie Hingst“
>> NZZ: „Der tragische Fall einer Fälscherin“