Ernest Weills Verhältnis zu Deutschland schwankte im Laufe seines Lebens zwischen Freundschaft und Hass, wie sein Übersetzer, der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser, richtig feststellt. Im Falle Weills ist das nur allzu verständlich. Nachdem er in Bonn seine “wahrscheinlich schönsten Lebensjahre“ verbracht hatte, gelangte er 1940 als Angehöriger der französischen Armee für fünf Jahre in deutsche Kriegsgefangenschaft, während seine Familie als Juden deportiert und sein Vater in Auschwitz ermordet wurde. Auf knapp 150 Seiten hat Weill seine Erlebnisse der schicksalhaften Jahre 1915-1945 zu Papier gebracht.
Obwohl der Autor im Jahre 1915 als Ernst Heinrich Weill in Bonn geboren wurde, dort „zu 100 Prozent deutsch“ aufwuchs und französisch erst mit 16 Jahren als Fremdsprache erlernte, fühlte er sich aufgrund der elsässischen Herkunft seiner Eltern nie als Deutscher. 1931 verließ Weill sein Geburtsland und ging nach Frankreich, wo er sein Baccalauréat machte, Jura studierte und den bedrohlichen Aufstieg des Hitler-Regimes beobachtete.1936 trat Weill in die französische Armee ein und erreichte – aus gutem Hause kommend – schnell einen Offiziersrang. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gelangte er in deutsche Kriegsgefangenschaft, während der er unter anderem in der angeblich ausbruchsicheren Festung Colditz interniert war. Sehr detailreich schildert Weill den Lageralltag westlicher Soldaten und befindet, seine Behandlung dort sei im Großen und Ganzen „korrekt“ gewesen (S. 129). Erst nach dem Krieg sollte er feststellen, dass seine Uniform ihm das Leben gerettet und ihn vor der Deportation bewahrt hatte.
Das Buch ist nicht explizit an ein deutsches Publikum gerichtet. Fast 90jährig diktierte Weill auf Bitten seiner Kinder das Manuskript seiner Frau Odette. So liest sich es sich, als spreche der Autor zu seinen Nachkommen. Das Buch enthält zahlreiche historische Erläuterungen, die dem durchschnittlichen deutschen Leser bekannt sein müssten und deswegen stören. Auch kleinere Fehler haben sich eingeschlichen, zum Beispiel wenn Weill das Horst-Wessel-Lied mit der blutrünstigen SA-Version des Liedes „Ihr Sturmsoldaten“ verwechselt (S. 46). Der einfache Stil lässt das Buch aber auch ehrlich und authentisch wirken. Der Autor nimmt kein Blatt vor den Mund und scheut sich auch nicht, seine Enttäuschung über die Vielzahl französischer Kollaborateure während des Krieges und die Wendehalsmentalität vieler Franzosen nach dem Krieg kundzutun.
In einem separaten Teil des Buches geht Weill der Frage nach, ob der Nationalsozialismus als „Zufall“ oder „Endstadium“ der deutschen Geschichte aufzufassen ist. Er vertritt dabei die Auffassung, das Hitler-Regime sei als logische Konsequenz aus den historischen Gegebenheiten wie den Versailler Verträgen, der Weltwirtschaftskrise und der mangelnden Reife der Deutschen zur Demokratie anzusehen (S. 154). Dieser Teil des Buches wirkt etwas befremdlich, da Weill keine wissenschaftliche Methodik verwendet, sondern aus dem Bauch heraus argumentiert und persönliche Eindrücke zu Stereotypen ausbaut. So behauptet Weill: „Wenn drei Deutsche beisammen sind, setzt sich der Stärkste der drei durch – und zwar körperlich oder geistig“ (S. 142). Dabei hat er zum Nachkriegsdeutschland ein positives Verhältnis und ist Freund der europäischen Integration.
Die Stärke des Buches ist die Vermittlung der persönlichen Eindrücke, die der Autor während seiner Kindheit als Jude elsässischer Herkunft in Deutschland, während des Aufstiegs des Nationalsozialismus und während seiner Kriegsgefangenschaft gewonnen hat. Das Buch gewährt einen Einblick in die Denkweise der älteren Generation unserer französischen Nachbarn und lässt deswegen über den einen oder anderen Kritikpunkt hinwegsehen.
Ernest Weill: Die Loreley oder der verfluchte Mythos. Lebenserinnerungen eines elsässischen Juden. 1915-1945 (Deutsche Übersetzung von Tilmann Moser). Psychosozialverlag 2008. 19.90 EUR.