Ein Nachruf auf eine Kirche
Inzwischen ist so etwas wie Normalität eingekehrt im „Barmbeker Turmhaus“. Die letzten Korrekturarbeiten sind ausgeführt, alle Wohnungen vermietet. Allein der farblich etwas abgesetzte Ostflügel – der mittlerweile als Konferenzsaal vermietet wird – deutet darauf, dass dieser Flecken Erde einen Wendepunkt in der kulturhistorischen Entwicklung Europas markiert. Denn anstelle des zwölfgeschossigen Neubaus erhob sich an dieser Stelle über einhundert Jahre lang die evangelische Heiligengeistkirche, deren Abriss sich im März zum vierten Mal jährt. Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) ließ erstmals eines ihrer Gotteshäuser abreißen, um Platz für einen privaten Investor zu schaffen. Der Bagger kam im Morgengrauen und verschonte nur einen kleinen Teil des Kirchenschiffs, der als optisches Schmankerl des Neubaus erhalten blieb.
Die Heiligengeistkirche in Hamburgs ehemaligem Arbeiterviertel Barmbek war ein Gebäude mit Geschichte. Die 1902 nach Entwürfen des Architekten Hugo Groothoff im Stil der Neogotik erbaute Kirche bildete das Zentrum des Stadtteils und überragte die umliegenden Gebäude um ein Vielfaches. Selbst dem Feuersturm des Jahres 1943 hielt das Gewölbe stand – nicht jedoch der Kirchturm. Die Barmbeker aber dachten nicht daran, ihre Kirche abzureißen, sondern bauten sie bis zum Winter 1955 wieder auf. Dabei beschränkten sie sich zunächst auf das Wesentliche: Einige Fenster wurden zugemauert, auf einen Mittelturm verzichteten die Barmbeker ganz und anstelle der einst mächtigen Kirchturmspitze errichteten sie eine kürzere, provisorische. Den vollständigen Wiederaufbau verschob die Gemeinde auf spätere, bessere Zeiten. Denn Barmbek brauchte ein Haus zum Heiraten, zum Beten, zum Abschied nehmen.
Die besseren Zeiten kamen. Mitte der sechziger Jahre schmückten die Barmbeker ihre Kirche mit aufwändig gestalteten Fenstern von Anna Andersch-Marcus, und auch Geld für neues Inventar spülte in die Kassen. Aber irgendwann wurden die Zeiten so gut, dass die Menschen ihre Kirche nicht mehr brauchten. Trotz oder gerade wegen des zunehmenden Wohlstands sank die Zahl der Gemeindemitglieder kontinuierlich. Während sich der bauliche Zustand des Gotteshauses im Laufe der Jahre – nicht zuletzt als Folge der Kriegsschäden – zusehends verschlechterte, erhielt die Gemeinde immer weniger Geld, das für dringend notwendige Sanierungsarbeiten nötig gewesen wäre.
Kurz nach der Jahrtausendwende bezifferte ein Baugutachten die Kosten für eine umfassende Sanierung auf 2,8 Mio. Euro. Allein die notwendigsten Arbeiten wurden mit 750.000 bis 1,5 Millionen Euro veranschlagt. Aber selbst dieses Geld konnte die Gemeinde nicht aufbringen. Zuschüsse der Stadt waren nicht zu erwarten, da die Kirche das Prädikat „denkmalschutzwürdig“ nicht erhalten hatte. Als 2003 der Zustand des Mauerwerks kritisch wurde, votierte der Gemeinderat bei einer Enthaltung einstimmig für den Abriss und den Verkauf des Grundstücks an einen privaten Investor. Pastorin Posner-Noack: „Wir haben zusammen geweint.“
Die Reaktionen auf den Entschluss fielen geradezu gleichgültig aus. Eine Bürgerinitiative fand kaum Unterstützer, nennenswerte Protestaktionen gab es nicht. Für Zeitungen und Parteien war die Heiligengeistkirche kein Thema. Immerhin Pastor Ulrich Rüß, Vorsitzender der „Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis in Nordelbien“ kritisierte den Abriss als „Indikator für eine fehllaufende Entwicklung“. Während die nordelbische Synode ihre Finanzmittel für ein Gender-Mainstreaming-Projekt aufgestockt habe, werde an anderen Stellen gespart, was Rüß im Kern als „atheistisch und narzisstisch“ ansah.[1] Etwas verspätet eröffnete im Frühjahr 2008 die parteilose, von der CDU entsandte Kultursenatorin Karin von Welck die Debatte und äußerte Zweifel, ob die Entscheidung über den Abriss allein dem Kirchenvorstand überlassen werden dürfe. Doch von Welck wählte eine besonders schlechte Form, die Thematik der Bevölkerung näher zu bringen: Sie erklärte, christliche Kirchen sollten lieber in Moscheen umgewandelt statt abgerissen werden.[2] Die Idee, ein städtisches Rettungsprogramm für die Kirche zu fordern, zog trotz parallel stattfindender Bürgerschaftswahl niemand in Betracht. Vielleicht wäre es an der Zeit gewesen, etwas zurückzugeben, aber Bürgermeister Ole von Beust investierte das Geld der Steuerzahler lieber für die Oberschicht: Die Baukosten der neuen Elbphilharmonie belaufen sich nach ursprünglich anvisierten 190 Mio. Euro laut aktuellen Schätzungen auf bis zu 500 Millionen Euro – das sind rechnerisch 178,6 umfassende Kirchensanierungen.
Die Barmbeker Heiligengeistkirche war die erste, die zum Abriss freigegeben wurde und so musste die EKD zunächst einmal Richtlinien für die „Ent-Weihung“ eines Gotteshauses erlassen. Schließlich trugen die Gemeindemitglieder das Altarlicht in einer feierlichen Zeremonie zur nahegelegenen Kreuzkirche, mit deren Gemeinde sie bereits 2003 fusioniert hatten. Deren 1962 errichtetes Gebäude ist wie viele dieser Zeit so praktisch wie hässlich. Dafür läuft man zugegebenermaßen beim Gang zum Gottesdienst nicht Gefahr, von einem abgebrochenen Backstein erschlagen zu werden. Bei einem Verkauf der Kreuzkirche hätte man sicherlich einen Erlös von 750.000 bis 1,5 Mio. Euro erzielen können – aber das ist reine Spekulation.
Kurz vor Toresschluss ließ der Kirchenvorstand noch das Turmkreuz der Heiligengeistkirche mit zwei Spezialkränen bergen, da ein in Schutt und Asche versinkendes Kreuz wohl ein zu symbolhaftes (Presse-)Bild abgegeben hätte. Das Kircheninventar verkaufte die Gemeinde mehr oder weniger gewinnbringend an Meistbietende. Wie man den Tageszeitungen entnehmen konnte, ging die Orgel nach Portugal, die Turmuhr erwarb ein Liebhaber aus dem Umland, die drei Glocken schlagen immerhin wieder in der Lübecker Lutherkirche.
Das Schicksal der Barmbeker
Heiligengeistkirche wird kein Einzelschicksal bleiben. Wie aus Kirchenkreisen
zu erfahren ist, droht allein in der EKD einer zweistelligen Zahl von Kirchen
das Aus. Das eigentlich Frustrierende aber ist: Als im Frühsommer 2008 der
Abrisskran die Mauern der Barmbeker Heiligengeistkirche einriss, protestierte
niemand.
[1] Z. n.: Erstmals seit Jahrhunderten fällt eine Kirche, in: Die Welt vom 1. März 2008.
[2] Vgl. Senatorin will Kirchen notfalls als Moscheen erhalten, in: Hamburger Abendblatt vom 1. März 2008.