Rezension zu André M. Malick: Al-Qa’idas Interpunktion von Ereignisfolgen
Nach der Aufdeckung der Neonazi-Mordserie Ende 2011 steht die Auseinandersetzung mit dem Extremismus von Rechts im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses – das ist nur verständlich. Aber: An der Bedrohungssituation durch den islamischen Terrorismus hat sich nichts geändert. Erst im Frühjahr 2011 ermordete ein islamistischer Attentäter am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten und verletzte zwei weitere schwer (beim fünften Opfer versagte die Schusswaffe). Offenbar ist dies bereits in Vergessenheit geraten.
Der Forschungsstand über den islamischen Extremismus ist infolge der Anschläge des 11. September 2001 stark angewachsen. Der Hamburger Kriminologe André M. Malick beklagt jedoch einen Mangel an kommunikationsanalytischen Ansätzen, denen er großes Potential zur Entschärfung von Konflikten beimisst. Im Rahmen einer Studie über die Interaktion der Terrororganisation Al-Kaida und ihren westlichen Gegnern nimmt er einen Perspektivenwechsel vor und betrachtet die Entwicklungen, die zu den Anschlägen auf das Word-Trade-Center führten, aus Sicht der Terrorgruppe. Der Verfasser analysiert eine Reihe von Originaltexten Osama bin Ladens, seines Mentors Abdullah Azzams und seines Stellvertreters Ayman Al-Zawahiris sowie die Reaktionen des Westens auf deren Forderungen. Dabei macht Malick gravierende Mängel in der Kommunikation zwischen den Parteien aus: Während die USA die Drohungen Bin Ladens ignorierten, habe der Al-Kaida-Führer insbesondere die Nicht-Reaktion der Amerikaner als Provokation verstanden. Über das grundlegende Problem – die Präsenz der US-Streitkräfte auf muslimischem Territorium und in Bin Ladens Heimatland Saudi-Arabien – sei überhaupt nicht kommuniziert worden. Dieser Zustand dauere bis heute an, daher hält der Verfasser die Militäroperationen des Westens in Afghanistan und im Irak für sehr bedenklich. Sie begünstigten einen „homegrown terrorism“, wie ihn insbesondere die US-amerikanischen Altkonservativen um Patrick Buchanan befürchten.
Malick ist ein Schüler Sebastian Scheerers, Direktor des Instituts für Kriminologische Sozialforschung in Hamburg, der Terrorismus als „askriptives Merkmal“ ansieht. Der Begriff ließe sich dazu benutzen, diejenigen zu kennzeichnen, mit denen ein Staat aus strategischen Gründen nicht zu Verhandlungen bereit sei. Eine Einschätzung, die Malick zumindest ansatzweise teilt: „Wenn man Terroristen nicht zuhören will, führt genau diese Etikettierung dazu, dass der Terrorist noch lauter werden muss – bis man ihn nicht mehr überhören kann.“ (S. 70). Diese Argumentation erinnert an die der Gegner des Extremismuskonzepts („Es gibt gar keinen Linksextremismus“), die ebenfalls auf die Gefahr des Missbrauchs von Begriffen abstellen. Deswegen sollten die Autoren bedenken: Kein wissenschaftliches Konzept ist davor gefeit, zu politischen Zwecken missbraucht zu werden – den Nutzen stellt dies aber nicht in Frage.
Malick versteht seine Arbeiten als Anregung, kommunikationstheoretische Erkenntnisse stärker als bisher in der wissenschaftlichen Diskussion über islamistischen Terror zu berücksichtigen. Er favorisiert die Methode Watzlawicks. Dessen drittes Axiom beschreibt die „Interpunktion von Ereignisfolgen“, nach der sich beide Kommunikationspartner durch das Verhalten des jeweils Anderen zu einer Aktion veranlasst fühlen, die ihrerseits den Konflikt weiter vorantreibt. Da im Sinne Watzlawicks auch die Nicht-Reaktion eine Form der Kommunikation darstellt („Man kann nicht nicht kommunizieren“), sehen sich Terroristen durch die Gesprächsverweigerung von Staaten zu noch drastischerem Handeln gezwungen.
Insgesamt liefert André Malick stichhaltige Argumente für seinen Ansatz. Kommunikationsanalysen können der Deeskalation von Konflikten dienlich sein. Die Anschläge auf das World Trade Center kamen nicht aus heiterem Himmel, wie dies Präsident George W. Bush Jr. gegenüber der Weltöffentlichkeit verkündete. Ob sie durch die Anwendung kommunikationsanalytischer Methoden zu verhindern gewesen wären, erscheint dagegen unwahrscheinlich. Einige Fragen bleiben offen: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um das Gespräch mit einer (potentiellen) Terrorgruppe zu suchen? Muss ein Staat auf alle zugehen, die mit Terror drohen? Wie viele Menschen müssen getötet werden, bis ein Staat sich auf Verhandlungen einlassen sollte?
André M. Malick: Al-Qa’idas Interpunktion von Ereignisfolgen. Eine Konfliktanalyse unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten nach Watzlawick, Frankfurt 2011 (Verlag für Polizeiwissenschaft).
Bild: Baustelle am Ground Zero im April 2012 (KDH)