Etwas stimmt nicht mit den Deutschen – das meint zumindest der konservative Autor Josef Kraus
Um eines vorweg zu nehmen: Bücher von Josef Kraus sind ihr Geld wert. Der ehemalige Präsident des Lehrerverbandes, Träger des Bundesverdienstkreuzes und Verfasser von Bestsellern wie “Helikoptereltern” und “Der Pisa-Schwindel” gehört ohne Abstriche zu bedeutendsten konservativen deutschen Autoren der Gegenwart.
In seinem neuesten Buch “Der deutsche Untertan” greift Kraus eine von Heinrich Mann entworfene Gesellschaftskritik auf – und mit der Ergänzung des Titels eine genuin linke These, nämlich dass das Untertanentum eine besonders deutsche Eigenschaft sei. Es ließe sich in diesem Zusammenhang entgegenhalten, dass die von Kraus geschilderten Erscheinungen der Political Correctness und der Cancel Culture in anderen westlichen Nationen ebenfalls erheblichen Einfluss auf das politische Klima und die Meinungsfreiheit nehmen. Das kann jedoch dahinstehen, da Kraus nicht das Ziel verfolgt, die Deutschen herabzuwürdigen. Er möchte ihnen helfen.
Richtig erkennt Kraus, dass sich die Gesellschaft in einer Phase des radikalen Umbruchs befindet. In dieser Phase stehen konservative Werte wie Freiheit, Familie, Tradition und Nation zur Disposition. Gleichzeitig wabert durch konservative Kreise ein kaum fassbarer Anti-Intellektualismus – und das ist freundlich formuliert. Das politische Spektrum rechts der Unionsparteien versteht es hervorragend, sich selbst ein Bein zu stellen und ist zu dämlich, den Ball vom Elfmeterpunkt ins leere Tor zu schießen. Wie anders lässt sich die Entwicklung der AfD bewerten, für die 2015 die Kanzlerin selbst das Leder auf den Punkt legte und damit die einmalige historische Chance bot, eine konservative Partei neben der Union zu etablieren. Aber die AfD schoss den Ball trotzig ins eigene Tor – gleich mehrfach – und wurde schließlich ein Fall für den Verfassungsschutz. Für Konservative sei das Auftauchen der AfD “ein Rückschlag” gewesen, meint denn auch Autor Kraus. Damit übergeht er zwar die zunächst vielversprechenden Jahre 2013 bis 2015, liegt im Ergebnis allerdings völlig richtig.
Dass der Anti-Intellektualismus sich nicht auf die AfD beschränkt, sondern für weite Teile des konservativen Spektrums gilt, belegte erst kürzlich das Schicksal der WerteUnion, für die Kraus noch vor ein paar Monaten selbst die Trommel schlug. Im Grunde war es eine brilliante Idee, eine konservative Stimme innerhalb der Unionsparteien zu etablieren. Die Bindung an die Unionsparteien hätte ein Schutzschild gegen links und rechts und gleichzeitig ein aussichtsreiches Mittel gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung sein können. Aber auch die WerteUnion setzte auf blindes Wachstum und gab damit letztlich dem zwielichtigen Max Otte die Gelegenheit, den einst hoffnungslosen Verein in die völlige Bedeutungslosigkeit zu steuern.
Die Fähigkeit konservativer Akteure, aus der Parteiengeschichte der Bundesrepublik zu lernen, ist gering. Die Fähigkeit, von der erfolgreichen politischen Linken zu lernen, ist kaum vorhanden. Das Lamento über den Verfall der kulturellen Identität ist groß, aber wenn es darum geht, NGOs zu gründen, Arbeit, Zeit und Geld zu investieren, geht die Bereitschaft gegen null. Wo sind die Organisationen, die sich aus konservativer Sicht mit Demokratie, mit Entwicklungshilfe, mit Sozialpolitik oder mit internationalen Beziehungen befassen? Selbst wenn die Leitmedien ein Interesse hätten, konservative Gegenpositionen abzubilden – Es gäbe so gut wie keine vorzeigbaren Repräsentanten. Dafür spielt sicherlich der hohe gesellschaftliche Druck auf abweichende Meinungen eine Rolle, aber auch eine konservative Trägheit. Man hat Aktivismus nicht gelernt.
Der Siegeszug der politischen Linken war in den vergangenen Jahrzehnten so nachhaltig, dass die Konservativen nur mit einem Rückzug und einer Besinnung auf das Wesentliche reagieren können. Dafür müssten eine Menge konservativer Positionen über Bord geworfen werden. Hier nimmt der Autor jedoch eine strukturkonservative Haltung ein. Kraus ist etwa der Auffassung, dass Konservative sich u.a. dadurch auszeichneten, dass sie einander siezen. Dieser These widerspricht, dass auch die Länder starke konservative Parteien hervorbringen, die das “Sie” bereits vor Jahrhunderten aus ihrer Sprache tilgten – genau wie die Tatsache, dass einer der erfolgreichsten europäischen Politiker rechts der christdemokratischen Volksparteien sich von seinen Anhängern schlicht “Jörg” nennen ließ.
Während sich das “Siezen” noch als Nebensächlichkeit abtun lässt, zeigt der Autor auch in Kernbereichen strukturkonservative Attitüden. Da wäre etwa die Ablehnung von Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder: Keine Frage, das konservative Modell der elterlichen Erziehung war ein gutes. Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich geändert – und zwar nicht erst in den letzten zehn Jahren. Ein Kind der sechziger Jahre hatte mehrere Geschwister und zwanzig Spielkameraden in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Oma wohnte nebenan, Onkel Klaus, Tante Gabi und die fünf Cousinen und Cousins eine Straße weiter; und das Fernsehen hatte nur zwei Programme – sofern man denn überhaupt ein Gerät hatte. Heute haben Kinder in vielen Fällen noch nicht einmal ein zweites Elternteil, und die Kinder aus der Nachbarschaft spielen täglich acht stunden Roblox und Minecraft im Gaming-Sessel in ihren Zimmern. Ergo: Wer heute sein Kind nicht frühzeitig in einer Betreuungseinrichtung anmeldet, riskiert Defizite in der sozialen Interaktionsfähigkeit seiner Kinder. Mehr noch: Wenn sich konservative Eltern die Zeit nehmen und ihre Kinder bis zur Schulpflicht zu Hause betreuen, verschaffen sie nicht nur ihren Kindern einen Nachteil, sondern auch sich selbst und der gesamten konservativen politischen Strömung. Denn Eltern, die ihre Kinder betreuen lassen, verfügen über mehr Geld und mehr Zeit, die sie für politisches Engagement nutzen können.
An der Grundthese des Buches lässt sich dagegen kaum rütteln. Selbst wenn der Gesellschaftskritiker Mann 1911 auf ein völlig anderes Deutschland blickte, ist offensichtlich dass Autor Kraus mit seiner Titelauswahl zumindest dem Wortsinn nach nicht ganz falsch liegen kann – lässt sich den Deutschen doch ein geradezu pathologischer Hang zur kulturellen und politischen Unterwerfung attestieren. Ausdruck dafür sind nicht nur die Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen auf die EU, die Aufgabe währungspolitischer Souveränität, die Amerikanisierung des Lebensstils und die Anglisierung und Genderisierung der Sprache, sondern auch ein immer härterer Umgang mit denen, die sich dem gesellschaftlichen Mainstream nicht unterwerfen wollen.
Trotz seiner provokanten, mitunter auch polemischen, Ausführungen bleibt das Buch von Kraus anschlussfähig. Das ist wichtig. Denn so besteht die Hoffnung, dass die vom Autor aufgeworfenen Thesen auch Menschen außerhalb der konservativen Blase erreichen. Kraus besitzt die Fähigkeit, philosophische und wissenschaftliche Gedanken einzubringen, ohne dabei langweilig zu sein oder eingebildet zu wirken. Daher von hier aus: uneingeschränkte Kaufempfehlung!
Der deutsche Untertan. Vom Verlust des eigenen Denkens. Langen-Müller, München 2021, ISBN 978-3-7844-3584-8.