Der Verfassungsschutzbericht 2018 wurde veröffentlicht
Jedes Jahr im Sommer, wenn das Bundesamt für Verfassungsschutz den neuen Verfassungsschutzbericht vorlegt, kommt es zu einem interessanten Medienphänomen, in dessen Mittelpunkt die Zahl politisch motivierter Straftaten steht. So auch in diesem Jahr, als aufgrund eines Vorab-Dossiers der Bild am Sonntag berichtet wurde, die Zahl rechtsextremer Gewalttaten habe sich im Vergleich zum Vorjahr von 28 auf 48 nahezu verdoppelt. Obwohl die Zahlen selbst Laien völlig unplausibel erscheinen mussten (tatsächlich kam es 2018 zu 1.088 rechtsextremen Gewalttaten), wurde die Meldung ungeprüft weiterverbreitet – unter anderem von tagesschau.de, ZDF-Heute und dem Deutschlandfunk. Dabei ist der Verfassungsschutz weder für die Erfassung noch für die Veröffentlichung dieser Zahlen zuständig. Es ist stattdessen das Bundeskriminalamt, das seine Zahlen regelmäßig einige Monate vor dem Bundesverfassungsschutzbericht vorstellt. Insofern sagt das eingangs erwähnte Phänomen durchaus einiges über die Sorgfalt der verantwortlichen Redakteure aus.
Dabei gibt es dem aktuellen Verfassungsschutzbericht durchaus einige interessante Erkenntnisse zu entnehmen. Der Extremismus von rechts steht nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke unweigerlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Zahlen der Rechtsextremisten sowie der gewaltbereiten Rechtsextremisten sind im Vergleich zum Vorjahr zwar etwa gleichbleibend. Im Langzeitvergleich befinden sie sich mit insgesamt 24.100 Personen, davon 12.700 Gewaltbereite, jedoch auf einem Höchststand. Anlass zur Sorge bereitet dem Bundesamt vor allem das große Mobilisierungspotential wie etwa bei den Massendemonstrationen nach der Tötung eines jungen Mannes in Chemnitz im August 2018. Aus dem Teilnehmerfeld sei es zu „einzelnen Übergriffen auf Passanten sowie vereinzelten Angriffen auf Polizeibeamte“ gekommen. Das Wort „Hetzjagden“ findet dagegen keine Verwendung.
Zum rechtsextremen Personenkreis werden auch weiterhin die Mitglieder der Identitären Bewegung Deutschland (IBD) gerechnet, deren Mitgliederzahl trotz Stigmatisierung von 500 auf 600 angewachsen ist. Anhaltspunkte, die zur Beobachtung der IBD führen, sind neben der „Fixierung auf eine ethnische Homogenität“ die – nicht abzustreitende – frühere Mitgliedschaft von Führungspersonal in rechtsextremen Organisationen.
Ein kaum kalkulierbares Risiko stellen die knapp 19.000 sogenannten „Reichbürger“ bzw. „Selbstverwalter“ dar, die als waffenaffin gelten und die staatliche Ordnung der Bundesrepublik ablehnen. Laut Verfassungsschutz sind jedoch lediglich 5 Prozent von ihnen (950 Personen) als rechtsextrem anzusehen. Die Zahl der extremistischen Gewalttaten aus diesem Spektrum hat sich im Vergleich zum Vorjahr von 130 auf 160 erhöht, von denen allein 89 in Bayern begangen wurden.
Die AfD spielt im diesjährigen Bericht lediglich im Kapitel Linksextremismus eine Rolle – und zwar als Ziel militanter Angriffe. Die Bedeutung linksextremistischer Akteure wurde bei der Veröffentlichungs-Pressekonferenz von Bundesminister Seehofer mit Hinweis auf die „deutlich rückläufig[en]“ Straftaten relativiert. Tatsächlich war deren Zahl um 28 Prozent auf 4.622 gesunken; die Zahl der Gewalttaten sogar um 38 Prozent auf 1010 Fälle. Erstmals seit über zehn Jahren wurde kein einziges der Delikte als versuchte Tötung bewertet.
Der Rückgang der Zahlen ist jedoch auch nach Auffassung des Verfassungsschutzes „in erster Linie darauf zurückzuführen, dass im Jahr 2018 kein szenerelevantes Großereignis“ wie der G 20 in Hamburg stattgefunden hatte. Zudem hatten die linken Szenen mit den oftmals gerichtlichen Nachwehen der G20-Proteste zu kämpfen. Dennoch stieg das linksextreme Personenpotential im Vergleich zum Vorjahr von 29.500 auf 32.000, somit um 8,5 Prozent, und auf den höchsten Stand seit 2010. Die Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten blieb mit etwa 9.000 Personen gleich, liegt damit aber deutlich höher als bei der Einführung dieser Kategorie im Jahr 2014, in dem nur 7.600 Gewaltbereite verzeichnet wurden.
Eine anhaltend hohe Gefährdung geht von islamistischen Gruppierungen aus, die sich „jederzeit in Form von jihadistisch motivierten terroristischen Anschlägen konkretisieren kann“. Zwar waren 2018 keine Terroranschläge auf deutschem Staatsgebiet zu verzeichnen, jedoch wurden mehrere Anschläge aufgrund frühzeitiger Hinweise vereitelt, zudem verübte ein deutscher Staatsangehöriger im Juli einen Selbstmordanschlag auf den Philippinen, bei dem 15 Tote zu beklagen waren. Die Zahl der Islamisten stieg bundesweit um knapp drei Prozent auf 26.560. Besonders die Rückkehr ausgereister Islamisten mit deutscher Staatsangehörigkeit bereitet der Behörde Sorgen. Rund 1050 Männer und Frauen sind nach offiziellen Angaben seit 2013 aus Deutschland in syrische und irakische Kriegsgebiete ausgereist. Zudem sei es möglich, dass als Flüchtlinge getarnte Kämpfer oder radikalisierte Flüchtlinge Anschläge begehen könnten.
Auch im Bereich der Spionageabwehr habe sich die Bedrohungslage verschärft. Während russische Geheimdienste im Verdacht stehen, u.a. über soziale Netzwerke Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen, versuchen die Türkei und der Iran, auf in Deutschland lebende Oppositionelle Einfluss zu nehmen. Auch die Wirtschaftsspionage chinesischer Akteure steht weiterhin im Fokus des Bundesamtes.
Insgesamt hat sich das antidemokratische Personenpotential insgesamt erneut vergrößert, wie auch die Zahl derer, die bereit sind Gewalt einzusetzen. Das wiederum die Frage wirft die Frage auf, ob die derzeitigen Präventions- und Repressionskonzepte langfristig geeignet sind, eine Deeskalation herbeizuführen.
Foto: Symbolbild/kdh